Kritische Analysen der seit mehr als zwei Jahren andauernden
Wirtschafts- und Finanzkrise konstatieren zwar, daß diese Krise
in einem System ungleicher internationaler Entwicklung
stattfindet. Dennoch zeichnen sich die entsprechenden Debatten
in hohem Maße dadurch aus, daß sie im Grunde, auch wenn dies
nicht immer direkt ausgesprochen wird, die Zentren der
Weltwirtschaft in den Blick nehmen. Thema sind etwa die
Faustschläge der Krisenbewältigung in den wichtigen
Industrieländern oder die zeitlich verzögert einsetzende
Abwälzung der Krisenlasten auf die Bevölkerung. Dabei geht man
stillschweigend davon aus, daß außerhalb der Zentren der
kapitalistischen Weltwirtschaft vergleichbare Vorgänge zu
beobachten sind. Thema ist schließlich auch der mögliche
Aufstieg von Schwellenländern im globalen System im Gefolge der
Krise. Wie die Krise selbst an den europäischen und globalen
Peripherien aussieht, welche sozioökonomischen und politischen
Dynamiken sie in diesen Weltregionen auslöst, welche Strategien
zu ihrer Bewältigung hier erprobt werden, findet dagegen kaum
Aufmerksamkeit. Ähnliches gilt für die Frage, welche Rolle die
Zentren für die Krisenentwicklung und -dynamik an den
Peripherien spielen. Nur wenn umgekehrt die Krise bzw. die
peripherialisierte Krise, wie im Fall Griechenlands, die Zentren
oder das System als solches bedroht, machten sich dort
Krisentheorie und Krisenpolitik echte Sorgen.
Ein Wechsel der Blickrichtung ist daher angesagt. Indem wir die
Auswirkungen der Krise in den benachteiligten Weltregionen, so
zum Beispiel ihre sozialen Folgen und die sozialpolitischen
Reaktionen auf die Krise in Osteuropa, beleuchten, lernen wir
Neues nicht nur über diesen untergeordneten Teil unseres
Kontinents. Wir müssen auch erkennen, daß unser Verständnis der
Krise in den Zentren Europas ein teilweises und teilweise
verzerrtes bleibt, solange wir den Perspektivenwechsel, der der
Peripherie theoretische und politische Gleichrangigkeit
einräumt, nicht vollziehen.
Zerstörung der Sozialsysteme …
In Osteuropa stellt sich die Epoche seit der »Wende« von
1989/1991 ungeachtet der zum Teil krassen Unterschiede der
verschiedenen ehemals »staatssozialistischen« Länder
untereinander stärker als in Westeuropa als soziale und
sozialpolitische Dauerkrise dar. Die Grundlagen dafür wurden,
nachdem bereits die 1980er Jahre von deutlichen Krisensymptomen
geprägt gewesen waren, in den ersten Jahren nach der »Wende«
gelegt. Aus sozialpolitischer Sicht leitete diese einen in hohem
Maße regionsspezifischen Strukturbruch ein. Die in diesem Rahmen
geschaffenen sozialpolitischen Strukturen sind durchaus
geeignet, die Länder des Ostens ganz im Sinne der Herrschenden
in Ost und West durch die Krise zu tragen.
Die staatssozialistischen Wohlfahrtssysteme unterschieden sich
grundlegend von der westlichen Sozialpolitik. Vollbeschäftigung
einschließlich des berüchtigten Arbeitszwanges war Voraussetzung
»staatssozialistischer« Sozialpolitik und gleichsam unsichtbar
in deren Konstruktionsprinzipien eingebaut. Zahlreiche
Sozialleistungen waren unmittelbar an das
Beschäftigungsverhältnis gekoppelt. Hinzu kamen Politikmuster,
die nicht als Wohlfahrtspolitik in Erscheinung traten und direkt
in das makroökonomische Planungs- und Steuerungssystem eingebaut
waren. So wurden etwa Grundnahrungsmittel systematisch
subventioniert und Luxusartikel verteuert, um auf diese Weise in
wohlfahrtspolitischer Absicht Ressourcen zugunsten der
Mehrheitsbevölkerung umzuverteilen. Der »Systemwechsel« in
Osteuropa, der auch als dominante Form der Bewältigung der Krise
der 1980er Jahre bezeichnet werden kann, zielte in hohem Maße
auf die Abschaffung dieses Wohlfahrtssystems.
Dies ging auf drei Ebenen vor sich. Erstens war ein massiver
Substanzverlust des alten Sozialsystems zu beobachten, der nicht
durch die Zerstörung von dessen institutionellen Strukturen und
gesetzlichen Fundamenten, sondern dadurch zustande kam, daß die
ökonomischen Grundlagen des Systems dahinschwanden. Die Ankunft
der Arbeitslosigkeit und die beginnende Privatisierung der
Staatsbetriebe schnitten viele Menschen vom Zugang zu den alten,
arbeitsplatzbezogenen Sozialleistungen ab. Bei der
Hyperinflation handelte es sich – aus sozialpolitischer Sicht -
um eine für Westeuropa bis heute unvorstellbare, massive
Entwertung vieler existierender Sozialleistungen, denn der
Nominalwert der pro Monat ausgezahlten Familienbeihilfen und
sonstigen sozialen Leistungen wurde weitgehend stabil gehalten.
Zweitens machten sich die neuen Herren der osteuropäischen
Länder mit Unterstützung ihrer westeuropäischen Gefährten daran,
ein der Form nach westliches, staatliches sozialpolitisches
Institutionensystem aufzubauen. Doch die Leistungen der neuen
Institutionen waren, so zum Beispiel bei der
Arbeitslosenversicherung, selbstverständlich von vornherein an
das problematisch niedrige Lohnniveau angepaßt, und sie
durchliefen gemeinsam mit den Löhnen selbst einen weiteren
ständigen Entwertungsprozeß. Noch rudimentärer sind die
Grundsicherungssysteme des sogenannten zweiten sozialen Netzes.
In Ungarn und Rußland erreichen die Beihilfen vergleichsweise
viele Betroffene, aber die Leistungen sind sehr niedrig. Das
bulgarische System darf als wohlfahrtspolitisch irrelevant
bezeichnet werden, weil die Beihilfen minimal und höchst
selektiv sind. In Rumänien wurde 2006 eine Regelung eingeführt,
nach der die lokalen Behörden an einem gut sichtbaren Ort eine
Liste der Sozialhilfeempfänger einschließlich des Zeitplans für
deren gemeinnützige Arbeit aufzuhängen haben.
Drittens schließlich wurde die teilweise Privatisierung von
sozialer Sicherung, ihre marktförmige Umgestaltung, wesentlich
massiver als in den europäischen Zentren vorangetrieben. So
betragen die privaten Zuzahlungen zu Gesundheitsdiensten und
-leistungen in Lettland mittlerweile 39, in Rumänien 35 und in
Ungarn 22 Prozent des Gesamtvolumens, in Großbritannien dagegen
nur zwölf Prozent. Den wohl wichtigsten Bereich stellte jedoch
die Alterssicherung dar. Zwischen 1998 und 2004 vollzogen 14
osteuropäische und postsowjetische Länder unter massiver
Einflußnahme der Weltbank eine zumeist teilweise Privatisierung
ihrer Rentensysteme. Oft wurde dabei ein sogenanntes
Mehrsäulensystem eingeführt, in dem neben die verpflichtende
staatliche und eine freiwillige private eine verpflichtende
private Säule trat.
… im Interesse des Finanzkapitals
Diese sogenannten Reformen bedienten in erster Linie
finanzkapitalistische Interessen, denen es um die
privatwirtschaftlich gesteuerte Verwertung der Pensionsbeiträge
am Kapitalmarkt zu tun war. Die Sozialpolitik wurde dem
Finanzkapitalismus einverleibt. Diese Zwangsteilprivatisierung
der Alterssicherung wälzt das Risiko der Investition am
Kapitalmarkt auf die ordentlichen Versicherten ab. Die
Verantwortung für die sogenannten Altrentner und für
Risikogruppen unter den zukünftigen Rentnern wird dagegen
weitgehend dem Staat aufgehalst. Denn ein stetig wachsender
Anteil der Beitragseinnahmen fließt den verpflichtenden privaten
Rentenfonds zu, in welche die jüngeren Erwerbstätigen
durchgehend eintreten müssen. Zudem ist die staatliche Säule, so
zum Beispiel in Ungarn, für all jene zuständig, die sich während
ihres Arbeitslebens nicht genügend Ansprüche erwerben konnten.
Außerdem kommen ihr gewisse Garantiefunktionen gegenüber den
Unwägbarkeiten der Anlageentwicklung auf seiten der
verpflichtenden privaten Säule zu. Die meisten Länder setzten
die Rentenreform also so um, daß sie auf mittlere Sicht massive
Löcher in die verbleibenden, nach dem Umlagesystem finanzierten
staatlichen Rentenkassen reißen muß. Die Aushungerung der
osteuropäischen Pensionssysteme auf Kosten des Staates und
zugunsten der Kapitalmärkte wurde auf eine in Westeuropa
weitgehend unbekannte Art auf die Spitze getrieben.
Im Ergebnis von alledem finden wir heute in Osteuropa
Sozialsysteme vor, die der Form nach in mancher Hinsicht den
westeuropäischen Systemen gleichen, ihres materiellen Gehaltes
aber zum guten Teil und in manchen Ländern weitgehend beraubt
sind. Soziale Desintegration verbindet sich dabei mit
nachteiliger internationaler Integration.
Brutaler Absturz …
Auf diese Situation traf dann die Finanz- und Wirtschaftskrise
seit 2008. Stellte sich die Lage schon zu diesem Zeitpunkt
weitaus nachteiliger dar als in Westeuropa, so sind seitdem in
vieler Hinsicht weitere Verschlechterungen zu verzeichnen. Ein
besonders extremes Beispiel für sozialpolitisch relevanten
Absturz ist Litauen. Zwischen Ende 2007 und Juli 2009 stieg die
Zahl der registrierten Arbeitslosen von 52321 auf 132000
Personen an. Dies war begleitet von einem deutlichen Verfall der
Reallöhne. Vergleichende Daten aus den Jahren 2007 bis 2010
verdeutlichen die Dimensionen von Dauerkrise und neuer Krise. So
lag nach offiziellen Angaben der EU-Statistik der
durchschnittliche Jahresverdienst im Industrie- und
Dienstleistungssektor in Tschechien 2007 bei 8284, in Bulgarien
bei 2626 Euro. In den alten EU-Ländern liegt der Vergleichswert,
von den ärmsten unter ihnen abgesehen, zwischen rund 35000 und
50000 Euro. Der Mindestmonatslohn in der Slowakei beträgt 296
Euro brutto, in Ungarn kommt eine alleinstehende, den
Mindestlohn beziehende Person netto auf etwa 170 Euro. Bedenkt
man, daß sich die Höhe vieler Sozialleistungen direkt aus der
jeweiligen Einkommenshöhe ergibt, wird die brutale soziale
Spaltung Europas schon an dieser Stelle offenbar. Mißt man die
Armutsgefährdung nicht wie in der EU-Statistik üblich am
Verhältnis zu den mittleren Einkommen, sondern am realen
materiellen Mangel, treten erschreckende Zahlen zutage. Der
Anteil der Armutsgefährdeten an der Bevölkerung schnellte im
Zuge der neuen Krise rasant nach oben, er liegt in Bulgarien und
Rumänien bei mittlerweile über 50, in Ungarn bei 41 Prozent der
Bevölkerung. Derselbe Indikator lag 2008 in der alten EU,
einschließlich der dazugehörigen Armenhäuser wie Griechenland
oder Portugal, bei durchschnittlich 12,5, in den 12 neuen
EU-Staaten dagegen bei 35,3 Prozent. Die Pro-Kopf-Gesamtausgaben
für soziale Versorgung waren, ohne Verwaltungskosten und unter
Berücksichtigung der Kaufkraft der jeweiligen Beträge, in Ungarn
um 55 Prozent niedriger als in Deutschland, in Rumänien waren
sie 62 Prozent niedriger als in Ungarn. Die Lebenserwartung der
ungarischen Männer liegt bei durchschnittlich 69, für Frauen bei
78 Jahren, gegenüber 77 bzw. 83 Jahren im benachbarten
Österreich. Die Lebenserwartung der Roma und Romni in Ungarn
liegt um 10 Jahre niedriger als die der übrigen Ungarn und
Ungarinnen.
… und ungleiche Beziehungen
Daß der soziale Absturz im Zeichen der Krise in Osteuropa im
Vergleich zu Westeuropa brutaler ausfällt, ist zum Teil dem
vergleichsweise stärkeren wirtschaftlichen Niedergang dieser
Ländergruppe und der stärkeren Einbindung ihrer Sozialsysteme in
die internationalen Kapitalmärkte geschuldet. Hinzu kommen
Faktoren, die direkt mit den ungleichen sozioökonomischen
Beziehungen innerhalb Europas zusammenhängen. Soziale Kosten der
gesamteuropäischen wirtschaftlichen Entwicklung wurden schon des
längeren in überproportionalem Maße den osteuropäischen Ländern
aufgebürdet. Nun kommt der Export von Folgekosten der neuen
Krise nach Osteuropa hinzu. Ein wichtiges Beispiel ist die
Arbeitskräftemigration innerhalb Europas. Der Exodus
arbeitsfähiger Personen aus Osteuropa ging und geht mit einer
Schrumpfung der Bevölkerungen im arbeitsfähigen Alter in den
östlichen Ländern einher. Dadurch erhöht sich beispielsweise der
Druck auf deren Rentensysteme. Lebten 2001 300000 Rumänen als
Zuwanderer im EU-Ausland, so waren es 2009 bereits 1,9
Millionen. In vielen westeuropäischen Ländern trägt die
Zuwanderung umgekehrt massiv zur Verjüngung des
Durchschnittsalters der Bevölkerung bei. Die Zuwanderer leisten
überproportionale Beiträge zu den westlichen Sozialsystemen und
tragen zugleich als Billigarbeitskräfte in Gesundheitswesen und
Altenpflege zur Verringerung sozialer Ausgaben bei. Auf die
Krise seit 2008 folgte dann eine beträchtliche
Rückwanderungswelle. Diese entlastet die Sozialbudgets im
Westen, da die betroffenen arbeitslosen Arbeitskräfte einfach
verschwinden und nicht unterstützt werden müssen. Im Osten führt
die Rückwanderung zu einer Verschärfung der Arbeitslosigkeit und
der sozialen Krise.
Ein weiteres Beispiel für die Zuspitzung der ungleichen
Verteilung sozialer Lasten in Europa ist die
Immobilienkreditkrise. Was als Liberalisierung und
Internationalisierung des Privatkreditwesens, getragen von
westlichen Banken und ihren Filialen im Osten, begann, stürzt
die Betroffenen, mit dem Verfall der Landeswährungen gegenüber
dem Euro, nun in eine existenzbedrohende Schuldenfalle. Von den
zehn Millionen Ungarn waren im Juni dieses Jahres 850000
Personen auf einer offiziell geführten Liste verzeichnet, in der
jene registriert werden, die mit der Rückzahlung von einem oder
mehreren Krediten um mindestens drei Monate im Rückstand sind
bzw. gar nicht mehr zahlen können. Dies entspricht einer
Steigerung um 54 Prozent gegenüber Juni 2008.
Forcierter Sozialabbau
Den osteuropäischen Ländern stehen wesentlich weniger
Möglichkeiten zur Verfügung, die neue Krise mithilfe
spezifischer Instrumente der Sozial- und Arbeitsmarktpolitik,
wie sie im Westen seit 2008 zum Einsatz kamen, abzufedern. In
einigen westlichen Ländern wurden beträchtliche Summen allein in
direkt haushaltsbezogene Sonderkrisenmaßnahmen investiert.
Finnland und Österreich als Spitzenreiter investierten in diesen
Sektor je 2,6 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, während diese
Rate in einer ganzen Reihe von osteuropäischen Ländern bei (oder
unter) 0,1 Prozent lag.
Demgegenüber sahen sich die osteuropäischen Staaten durchgängig
zu Reaktionen auf die neue Krise veranlaßt, die nur als extreme
Form der seit nunmehr 20 Jahren in Osteuropa betriebenen
Wohlfahrtspolitik, nämlich als forcierter Sozialabbau auf
unterstem Niveau, bezeichnet werden kann. In Lettland beträgt
seit Mitte 2009 die allgemeine monatliche Kinderbeihilfe nunmehr
sechs Euro pro Kind, die Krankenunterstützung der
Sozialversicherung gibt es nur mehr für 26 anstelle für 52
Wochen. In Ungarn trat Anfang 2010 eine Reform des
Sozialhilfegesetzes in Kraft, die den Bezug der Leistung, deren
Richtsatz pro Person und Monat knapp 150 Euro beträgt, auf nur
mehr eine Person pro Familie beschränkt. Für viele Familien fiel
damit die Hälfte der bisherigen Bezüge oder sogar noch mehr
einfach weg. Mehrere Staaten verfügten drastische
Einkommenskürzungen bei den öffentlichen Bediensteten, in
Rumänien verloren diese ein Viertel ihrer Bezüge. Lehrer, Ärzte
und Sozialarbeiter verdienen mittlerweile nur noch etwa 240
Euro, einfache öffentliche Verwaltungsangestellte 150 Euro im
Monat. Die Monatsmiete für eine Zweizimmerwohnung in den großen
Städten liegt meist um 150 Euro. Hinzu kommt in manchen Ländern
eine verstärkte Hinwendung zur Schaffung von Sicherheitsnetzen
nur noch für die Allerärmsten auf der Grundlage von
individueller Bedürftigkeit. Oft sind diese an eine
Arbeitsverpflichtung im Gemeinwesen gekoppelt. Geläufig sind
außerdem Notstandsmaßnahmen im Stil des 19. Jahrhunderts, so
etwa ein winterliches Delogierungsmoratorium in Ungarn.
Ebenfalls auf dem Vormarsch ist antiliberale und autoritäre
Sozialpolitik gegen »Unterschichten«, die nicht selten auf
zusätzliche Diskriminierung ethnischer Minderheiten, darunter
insbesondere der Roma, hinausläuft oder abzielt.
Bemerkenswert sind Entwicklungen in einigen Staaten, die auf die
Rückeroberung staatlicher sozialpolitischer Handlungshoheit
hinauslaufen. In Ungarn etwa geschieht dies in Kombination mit
autoritärer, gegen die Unterschichten gerichteter Sozialpolitik.
Die im April 2010 gewählte rechts-autoritäre Regierung ist
dabei, das teilprivatisierte Pensionssystem wieder zu
verstaatlichen, um sich auf diese Weise gegenüber der EU
budgetpolitische Handlungsspielräume zu verschaffen und die
wachsenden Löcher in der staatlichen Rentenkasse zu stopfen.
Estland hat bis auf weiteres staatliche Zuflüsse in die
privatisierte Pflichtsäule der Rentenversicherung gestoppt.
Anderswo sind massive Auseinandersetzungen um staatliche
Handlungshoheit zu verzeichnen. In Rumänien und Lettland haben
Höchstgerichte die in den Parlamenten bereits beschlossenen
Rentenkürzungen für rechtswidrig erklärt und damit gekippt.
Auf Kosten der Peripherie
Die neue Krise seit 2008 gestaltet sich in Osteuropa sozial und
sozialpolitisch als fortgesetzte Dauerkrise und als eine im
Vergleich mit der westeuropäischen Krise zusätzlich verschärfte
Krise. Die soziale Desintegration, die den östlichen Teil
unseres Kontinents kennzeichnet, kann nicht unabhängig von
dessen untergeordneter Einbeziehung in die politische Ökonomie
des poststaatssozialistischen Europa begriffen werden. Wenn
überall in Europa die Schaffung von Arbeitsplätzen als
Allheilmittel gegen die soziale Krise und die Krise der
Sozialsysteme gepriesen wird, dann erscheint dies aus
osteuropäischer Sicht besonders zynisch. Denn arbeiten zu gehen,
bedeutet für die Menschen der östlichen Hälfte des Kontinents in
unvergleichlich geringerem Ausmaß als in den Zentren Europas
Existenzsicherung – auf welch geringem Niveau auch immer. Zudem
trifft die neue Krise in Osteuropa auf Gesellschaften, wo
Mechanismen und Institutionen zur sozialpolitischen Versorgung
jener, die vom Verkauf ihrer Arbeitskraft nicht existieren
können, zum Teil nur der Form nach existieren, zum Teil einen
unvergleichlich geringeren Schutz gegen Folgen der Krise zu
bieten haben, als dies in den Zentren Europas der Fall ist.
Transnationale Akteure, die Sozialpolitik als transnationale
Finanzpolitik betreiben, oder deren sozialpolitische Interessen
auf die Minimierung von Sozialpolitik hinauslaufen, haben eine
große Rolle dabei gespielt, daß sich die sozialpolitische
Landschaft in Osteuropa auf diese Weise entwickelt hat. Und
schließlich sind wir keineswegs Zeugen eines in West wie Ost im
Prinzip gleichartigen, lediglich dem unterschiedlichen
Entwicklungsniveau angepaßten Prozesses unsozialer
Krisenbewältigung. Vielmehr findet schon lange zusätzlich eine
Auslagerung sozialer Kosten der ökonomischern Entwicklung und
von Folgekosten der Dauerkrise und der neuen Krise aus den
Zentren an die Peripherien Europas statt. Sozialpolitik in
Gesamteuropa ist nicht nur umkämpfte Umverteilung zugunsten von
Benachteiligten innerhalb der einzelnen Länder. Sie beinhaltet
auch eine innereruopäische sozialpolitische ›Arbeitsteilung‹,
in deren Rahmen sogenannte soziale Lasten in die Peripherien
abgeschoben und so Ausgaben in den Zentren auf Kosten der
Peripherien verringert werden.
* Csilla Medve arbeitet in der Sozialverwaltung einer
Landeshauptstadt in Ostungarn und ist dort unter anderem für
EU-Koordination zuständig
Quelle:
http://www.jungewelt.de/2010/12-20/010.php