Betreff: nahostinfos - J. Guillard - W. Gehrcke - U. Avnery - eine Auseinandersetzung
 

Lieber Wolfgang Gehrke,

Deine Kritik an Uri Avnerys vehementer Befürwortung des Krieges gegen Libyen begrüße ich natürlich sehr. Allerdings übernimmst dabei mehr oder weniger seine Zielsetzung und auch seine Charakterisierung des „Ghaddafi-Regimes“. Mehrfach sprichst auch Du vom "Tyrannen".

Diese, auch unter Kriegsgegner weitverbreitete Einschätzung, scheint eine Binsenweisheit zu sein. Gewichtige Gründe dafür, warum der libysche „Revolutionsführer“ ein so herausragender Bösewicht sein soll -- offenbar schlimmer, als die arabischen Potentaten in der Nato-Kriegsallianz -- habe ich allerdings noch keine gesehen.

Die Länderberichte von Amnesty International zu Libyen z.B. stützen die Einschätzung nicht. AI kritisiert in seinen Reports zwar die „Einschränkung der Rechte auf freie Meinungsäußerung, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit und die mangelnde Toleranz der Behörden gegenüber abweichenden politischen Meinungen.“ Die im Anschluß aufgeführten Menschenrechtsverletzungen rechtfertigen aber keineswegs die aktuelle Dämonisierung Ghaddafis und des libyschen Regimes. In den AI-Reports über Saudi Arabien werden wesentlich mehr und gravierende Verstöße geschildert und auch das als liberal geltende Scheichtum Katar, der andere arabische Verbündete in der Nato-Kriegsallianz, kommt nicht besser weg.
Sicher, auch Libyen praktiziert leider noch die Todesstrafe und liegt in Bezug des Anteils der Bürger, die im Gefängnis sitzen mit 2,0 Promille weltweit im vorderen Drittel – allerdings hinter Tschechien (2,1 Promille) und weit hinter den USA (7,4 Promille).

Dein Brief wirft daher für mich folgenden Fragen auf:

Beste Grüße,
Joachim Guilliard

 http://www.jungewelt.de/2011/04-08/043.php

08.04.2011 / Schwerpunkt / Seite 3

Verhandeln statt bomben

Offener Brief an Uri Avnery: Krieg wird die Welt niemals besser machen

Wolfgang Gehrcke

junge Welt dokumentiert einen offenen Brief Wolfgang Gehrckes, außenpolitischer Sprecher der Fraktion Die Linke im Bundestag, an den israelischen Publizisten und Friedensaktivisten Uri Avnery. Dieser hatte in seinen jüngsten Kolumnen für den NATO-Krieg gegen Libyen geworben (siehe jW vom 4.April).

Lieber Uri,

da wir in den vergangenen Jahren in der wirklich schwierigen, unglaublich vertrackten Nahost-Problematik gut und auch mit Sympathie zusammengearbeitet haben, bin ich mir sicher, daß Widerspruch Dich nicht verletzt, sondern daß Reaktion dir wichtig ist. Dies gilt auch aktuell für deinen Kommentar »Napoleons Diktum« und Deine darin ausgesprochene Befürwortung der militärischen Intervention gegen Libyen unter Ghaddafis Herrschaft. Dieser Text hat in der deutschen Friedensbewegung und in der Öffentlichkeit viel Diskussion ausgelöst, Widerspruch und Unterstützung gefunden. Deswegen antworte ich Dir öffentlich, in Freundschaft und mit Respekt.

Vielleicht hast Du Recht, und das Ghaddafi-Regime läßt sich nur mit militärischer Macht beseitigen. Das ist eine hypothetische Annahme, die aber sofort die Frage nach sich zieht, wie stark die militärische Macht Ghaddafis ist – und wer sie ihm verschafft hat. EU-Staaten, insbesondere auch Deutschland, haben Ghaddafi mit Rüstungsgütern versorgt, seit 2004 das EU-Embargo aufgehoben wurde. Hubschrauber und Störsender, die sich insbesondere zur Niederschlagung der Opposition eignen, wurden bis 2009 von Deutschland geliefert. Der Wert seiner Rüstungsexporte an Ghaddafi war allein im Jahr 2009 mit 53,2 Millionen Euro 13mal so hoch wie 2008. Das könnte die »Belohnung« dafür gewesen sein, daß Ghaddafi afrikanische Flüchtlinge von Europa ferngehalten und Öl geliefert hat.

Natürlich geht es um das Erdöl. Aus dessen Verkauf z.B. an Italien, Frankreich und Deutschland speist sich die Macht der Militärdiktatur Ghaddafis.

Wenn heute der Tyrann gestürzt werden soll, wie du schreibst, dann muß mit bedacht werden, wer ihn so stark gemacht hat. Für mich ist es eine Frage der persönlichen und politischen Glaubwürdigkeit, auf meine »eigene Schande«, dies nicht verhindert gekonnt zu haben, zu verweisen. »Mit der Notwendigkeit, Tyrannen zu entfernen, muß man sich befassen.« Das teile ich. Aber, … wer soll dieser »man« sein? Der UN-Sicherheitsrat, die NATO, ein jeweils zusammengewürfeltes Bündnis der »Willigen«, die USA? Ich denke bei dieser Koalition an vergleichbare Bündnisse im Falle des Iraks und Afghanistans und an die ungezählten getöteten Zivilisten; und es schüttelt mich, wenn ich höre, daß die Kriegskoalition auch in Libyen schon für ich weiß nicht wie viele zivile Opfer verantwortlich ist.

Ghaddafi ist nicht erst seit ein paar Wochen ein Tyrann. Die ihn jetzt militärisch in die Knie zwingen und töten wollen, haben sich bislang um das libysche Volk einen Dreck gekümmert. Das ist die bittere Wahrheit. Wenn sie sich jetzt schamlos für »die Revolu­tion« einsetzen, ein Wort, das sie bislang dem Gottseibeiuns zuordneten, und wenn diese Lügen unisono von den Medien wiederholt werden, kann ich nicht anders, als dieser Kriegs­demagogie zu widersprechen.

Welch ein Zynismus: Erst einen Tyrannen stark zu machen (und daran zu verdienen!), und dann, wenn er stark ist, über seine Macht zu lamentieren und gegen ihn Krieg zu führen! Beides hat mit Respekt vor Völker- und Menschenrechten nichts zu tun. Beides entspringt aber dem Wesen der derzeit vorherrschenden imperialen Interventionspolitik. Die beruft sich zwar demagogisch auf den Schutz der Menschen- und Völkerrechte und kann dafür leider auch den UN-Sicherheitsrat mißbrauchen, aber indem sie diese Rechte für ihre Machtinteressen instrumentalisiert, zerstört sie sie als Grundlage der internationalen Politik. Rückfall in die Barbarei wäre die Folge, die sich schon ankündigt in den Militärinterventionen und Kriegen der westlichen Großmächte um die Kontrolle über die Ressourcen der Welt.

Ich bin in vielem, was es abzuwägen gilt, tief verunsichert. Ich möchte, daß das Töten und Morden aufhört, auf allen Seiten. Und ich will dazu beitragen, daß Ghaddafi verschwindet. Das wird aber eher nicht das Ergebnis des Krieges sein.

Wenn Verhandlungen mit Ghaddafi, die bislang noch gar nicht stattgefunden haben, nicht helfen, was dann? Das Völkerrecht kennt so viele unterschiedliche Sanktionen unter Ausschluß von Waffengewalt, die allesamt gegenüber Ghaddafi nicht ernsthaft, nicht rechtzeitig, nicht systematisch angewandt wurden. Es gibt die Alternative zum Krieg, auch zu einem von der UNO sanktionierten Krieg. Doch der Krieg der NATO, die täglich auf Ausweitung drängt, ist Bruch des Völkerrechts. Nicht der Schutz der libyschen Zivilisten, von dem Du sagst, »er war von Anfang an eine höfliche Lüge«, sei Ziel, sondern der Sturz Ghaddafis. – Und was geschieht nach dessen Sturz?

Zuallererst, um diesen Krieg zu beenden, muß verhandelt werden, gleichgültig, welche moralischen, politischen oder geistigen Qualitäten man beim Verhandlungspartner zu erkennen vermeint. Die heute üblichen Bezeichnungen für Ghaddafi lauten der »Verrückte«, der »Psychopath«, der »Tyrann« oder in ähnlicher Preisklasse. Ich kenne dies bereits aus den Auseinandersetzungen mit Milosevic oder Saddam Hussein. Man kann sich Verhandlungspartner nicht aussuchen, oder man lehnt Verhandlungen grundsätzlich ab. Wenn Verhandlungen grundsätzlich abgelehnt werden, bleibt in der Tat nur die Logik, Krieg zu führen. Aber genau aus dem Krieg, der heute geführt wird, müssen wir raus. Weil, der nächste Schritt ist mit Sicherheit der Einsatz von Bodentruppen. Auch kann ich niemandem erklären, warum das Waffenembargo, das in der von mir kritisierten UN-Resolution für alle Seiten verhängt worden ist, jetzt ungeniert von den USA, Frankreich und Großbritannien ignoriert wird. Hier wäre die UNO als Verhandlungspartner gefragt, eine UNO, die nicht parteiisch ist, was leider zur Zeit nicht der Fall ist. Zur Stärkung des Völkerrechts beizutragen, um den Völkern Krieg zu ersparen, das ist »unser Bestes« in dieser unvollkommenen Welt. Die sofortige Beendigung der Kriegshandlungen in Libyen muß daher jetzt unsere erste und wichtigste Forderung sein.

Wir beide wissen, daß revolutionäre Prozesse nicht von außen importiert werden können, sondern sich aus inneren Widersprüchen entwickeln und interne Energien freisetzen. Auch das Völkerrecht geht von dieser Erkenntnis aus und verbietet daher die Einmischung in Bürgerkriege.

Ich gebe Dir hundertmal Recht, daß wir nicht auf eine perfekte Welt warten können, und daß wir in der unvollkommenen Welt unser Bestes geben müssen. Das ist der Grund für unser jahrzehntelanges Engagement in der Friedensbewegung. Aber Krieg wird die Welt niemals besser machen. Und unser Bestes kann nur darin bestehen, mit aller unserer Kraft den Frieden zu bewahren – und jene Instrumente des Friedens, die das Völkerrecht uns gibt, ein jeder in seinem Land und in Auseinandersetzung mit seiner Regierung. So wie bisher und immer wieder aufs neue.

Ich danke Dir sehr, lieber Uri, für deine Herausforderung zum Nachdenken. Du bist für mich einer der Gerechten in einer ungerechten Welt.

In freundschaftlicher Verbundenheit
Wolfgang Gehrcke


http://www.uri-avnery.de/news/130/15/Napoleons-Diktum

April 2, 2011

Napoleon’s Dictum

Von Uri Avnery

IT WAS Napoleon who said that it is better to fight against a coalition than to fight as part of one. Coalitions mean trouble. To conduct a successful military operation, one needs a unified command and a clear, agreed upon aim. Both are rare in coalitions. A coalition is composed of different countries, each of which has its own national interests and domestic political pressures. Reaching an agreement on anything needs time, which will be used by a determined enemy to his own advantage. All this has become very apparent in the coalition war against Muammar Qaddafi.

THERE IS no way to get rid of this “eccentric” tyrant but by sheer military force. This seems to be obvious by now. As the Hebrew joke goes, Qaddafi may be mad, but he is not crazy. He perceives the rifts in the coalition wall and is shrewd enough to exploit them. The Russians abstained in the Security Council vote – which in effect meant voting for the resolution – but since then have been carping about every move. Many well-meaning and experienced leftists around the world condemn everything the US and/or NATO do, whatever it is.

Some people condemn the “Libyan intervention” because there is no similar action against Bahrain or Yemen. Sure, it is a case of blatant discrimination. But that is like demanding a murderer go unpunished because other murderers are still free. Two minuses make a plus, but two murders do not become a non-murder.

Others assert that some of the coalition partners are themselves not much better than Qaddafi. So why pick on him? Well, it’s he who provoked the world and stands in the way of the Arab awakening. The need to remove others must be dealt with, too, but should not in any way serve as an argument against solving the present crisis. We cannot wait for a perfect world – it may take some time to arrive. In the meantime, let’s do our best in an imperfect one.

EVERY Day that passes with Qaddafi and his thugs still there, the coalition malaise gets worse. The agreed aim of “protecting Libyan civilians” is wearing thin – it was a polite lie from the beginning. The real aim is – and cannot be otherwise – the removal of the murderous tyrant, whose very existence in power is a continuous deadly menace to his people. But that was not spelled out in coalitionese.

It is clear by now that the “rebels” have no real military force. They are not a unified political movement and they have no unified political - let alone military - command. They will not conquer Tripoli by themselves, perhaps not even if the coalition supplies them with arms.

It is not the case of an irregular force fighting a regular army and gradually turning into an organized army itself – as we did in 1948.

The fact that there is no rebel army to speak of may be a positive phenomenon – it shows that there is no hidden, sinister force lurking in the wings, waiting to replace Qaddafi with another repressive regime. It is indeed a democratic, grassroots uprising.

But for the coalition, it creates a headache. What now? Leave Qaddafi, a wounded and therefore doubly dangerous animal, in his lair, ready to pounce on the rebels the moment the pressure is off? Go in and themselves do the job of removing him? Go on talking and do nothing?

One of the most hypocritical – if not downright ridiculous – proposals is to “negotiate” with him. Negotiate with an irrational tyrant? What about? About postponing the massacre of the rebels for six months? Creating a state which is half democratic, half brutal dictatorship?

Of course there must be negotiations – without and after Qaddafi. Different parts of the country, different “tribes”, different political forces yet to rise must negotiate about the future shape of the state, preferably under UN auspices. But with Qaddafi??

ONE ARGUMENT is that it should all be left to the Arabs. After all, it was the “Arab League” that called for a no-fly zone. Alas, that is a sad joke.

That Arab League (actually the “League of Arab States”) has all the weaknesses and few of the strengths of a coalition. Founded with British encouragement at the end of World War II, it is a loose – very, very loose – association of states with vastly different interests.

In a way, it represents the Arab World as it is – or was until yesterday. It is a world in which two (and perhaps three) contradictory trends are at work.

On the one hand, there is the perpetual longing of the Arab masses for Arab unity. It is real and profound, nourished by memories of past Arab glories. It finds its most concrete current expression in solidarity with the Palestinian people. Arab leaders who have betrayed this trust are paying the price now.

On the other hand, there are the cynical calculations of the member states. From the very first moment of its existence, the League has reflected the labyrinthine world of mutually antagonistic and competing regimes. Cairo always vies with Baghdad for the crown of Arab leadership, ancient Damascus competes with both. The Hashemites hate the Saudis, who displaced them in Mecca.  Add to this the myriad ideological, social and religious tensions, and you get the picture.

The first major undertaking of the League – the 1948 intervention in the Israeli-Palestinian war - ended in an Arab disaster, largely because the armies of Egypt and Jordan tried to forestall each other, instead of concentrating their energies against us. That was our salvation. Since then, practically all Arab regimes have used the Palestinian Cause each for its own interests, with the Palestinian people serving as a ball in this cynical game.

The present Arab Awakening is not led by the League, by its very nature it is directed against everything the League is and represents. In Bahrain the Saudis are supporting the same forces the rebels are fighting against in Tripoli.  As a factor in the Libyan crisis, the League is best ignored.

There is a third level of inter-Arab relations – the religious one. Islam has a strong hold on the Arab masses almost everywhere, but like every great religion, Islam has many faces indeed. It means quite different things to Wahabis in Riadh, Taliban in Kandahar, al-Qaeda people in Yemen, Hezbollah fighters in Lebanon, royalists in Morocco and the simple fellah on the shores of the Nile. But there is a vague sense of community.

So any Muslim Arab feels that he or she belongs to three different but overlapping identities, with the borders between them ill-defined – the “wotan”, which is the local nation, like Palestine or Egypt, the “kaum”, which is the pan-Arab identity, and the “umma”, which is the all-Islamic community of believers. I doubt whether there are two scholars who agree on these definitions.

SO HERE we are, people of March 2011, after having followed our basic human instinct and pushed for armed intervention against the threatened disaster in Libya. It was the right, the decent thing to do.

With due – and sincere - respect to all those who criticized my stand, I am convinced that it was the humane one.

In Hebrew we say: He who starts doing a good deed must finish it. Qaddafi must be removed, the Libyan people must be given a decent chance to take their fate into their own hands. So, too, the Syrian people, the Yemenites, the Bahrainis and all the others.

I don’t know where it will lead them – each of them in their own country. I can only wish them well - and hope. And hope that this time Napoleon’s dictum will not be proven right.