»Ökologisch, basisdemokratisch
und gewaltfrei. (...) und die Deutschen führen den ersten
Krieg nach 1945« – Grünen-MdB Angelika Beer auf Truppenbesuch in
Sarajevo (5.2.1997) Foto: AP
Dietmar Dath wurde 1970 in der Nähe von Freiburg im Breisgau
geboren. Der Science-Fiction-, Horror- und Heavy-Metal-Fan hat
nie einen Hehl aus seinen marxistischen Überzeugungen und seiner
Bewunderung für das politische Denken Lenins gemacht. Er war
Chefredakteur der Musikzeitschrift Spex (1998–2000) und
Redakteur der FAZ (2001–2007). Sein Roman »Die Abschaffung der
Arten« stand 2008 auf der Shortlist zum Deutschen Buchpreis. Im
September kommt bei Suhrkamp sein Roman »Sämmtliche Gedichte«
heraus. Im Januar 2010 soll von ihm im selben Verlag in der
Reihe BasisBiographien (Band 35) ein Buch über Rosa Luxemburg
erscheinen. Dath hat im April in der jW-Ladengalerie aus seinem
politischen Essay »Maschinenwinter« und anderen Texten gelesen.
Für eine ernsthafte Diskussion des Gesellschaftssystems
ist in den großen Medien wenig Platz. Unbeirrt nutzen Sie jede
Gelegenheit, diese Diskussion dort anzustoßen. Ist dabei nicht
die Rolle eines Exoten für Sie vorgesehen, der alles sagen darf,
weil man ihn im Grunde nicht ernst nehmen muß?
Es gibt dieses Kasperl- oder Lendenschurz-Problem, Sie sagen
Exot. Dazu fällt mir Ulrike Meinhof ein. In ihren letzten
Kolumnen schreibt sie mit großer Unzufriedenheit über sich als
Figur, die das System, das sie zum Einsturz bringen will,
auspolstert oder abfedert. Man läßt sie schreiben, und die
Repräsentanten des Systems können sich zugute halten, wie
liberal es doch sei. Die Meinhof hat dann den Schritt in die
Jugendarbeit gemacht, um wenigstens ein paar Jugendlichen zu
helfen, die in Heimen schikaniert wurden. Sie hat sie dazu
gebracht, ein bißchen Rabatz zu machen und gab ihnen den Schutz,
den sie ihnen als Medienfigur geben konnte. Ich nenne das den
Franz-von-Assisi-Weg. Die Meinhof hat das offenbar auch nicht
zufriedengestellt. Sie ist in den Untergrund gegangen. Und eine
exotische Randerscheinung geblieben, die sich dafür aufopfert,
daß letztlich alles so bleibt, wie es ist. Daß sie
stellvertretend verbrannt wurde, hat die Situation vielleicht
sogar verschlimmert. Die Alternativen Waffe-in-die-Hand-Nehmen
und Sozialarbeit-Machen sind beide nicht zufriedenstellend.
Es gibt also Lücken im System, in denen Sie daran
arbeiten, daß es überwunden wird?
Kein System präsentiert sich als völlig verrückter Vampir. Jedes
stellt seine Vorteile heraus. Der autoritärste Herrscher sagt:
Ich beschütze euch vor einem X, vor der Kälte, dem Hungertod
oder den bösen anderen, die hinter den sieben Bergen die Zähne
fletschen. Nur weil ich so ein Hund bin, haben die Feinde uns
noch nicht angegriffen.
Das System, in dem wir leben, behauptet von sich, pluralistisch
zu sein. Es beim Wort zu nehmen, ist meiner Erfahrung nach oft
der einzige Weg. Ähnlich wie bei der Religionskritik, die im
Mittelalter zunächst von Leuten kommt, die den religiösen Kram
ernst nehmen und Textkritik machen. Sehr verkürzt ausgedrückt,
ist Erasmus von Rotterdam schon der halbe Luther, Luther schon
eine Art Diderot und so weiter. Insofern haben Sie recht, wenn
Sie nach der Lücke im System fragen. Bei Shakespeare gibt es den
Hofnarren. Der klingelt, wenn er vorbeikommt. Dafür darf er die
Wahrheit sagen. Ich bin dafür, das etwas ernster zu nehmen. Sie
reden sich ein, daß dieser Pluralismus existiert. Also habe ich
im Moment nicht das Problem, daß ich nichts sagen darf.
Anders wäre es, wenn sich gesellschaftlich etwas bewegen würde.
Gäbe es eine Sowjetunion, hätte ich die Hälfte der Sachen, die
ich in der FAZ geschrieben habe, niemals schreiben dürfen. Ich
darf das, weil es keine gesellschaftliche Kraft gibt, der ich
damit den Rücken stärke. Die denken: Der macht sich komische
Gedanken, aber befürchten nicht, daß sie einen von denen, die da
unten krakeelen und mit Steinen schmeißen, bei sich im vierten
Stock haben. Der liebe Frank Schirrmacher sagt über Peter Hacks
Sachen wie: Fabelhafter Dichter, aber halt verrückt.
Wenn du nun mit der Schelle auf dem Kopf zum Produzieren von
Ideen abkommandiert wirst, kannst du immerhin ausprobieren, ob
du auch richtige Ideen produzieren kannst. Das sind nur Ideen.
Auf dieses »nur« lege ich großen Wert. Sie müssen immer noch
zünden. Jemand muß es tatsächlich machen.
Wenn Sie also fragen, wo ich die Chancen für eine Kritik sehe,
in diesem System praktisch zu werden, antworte ich dialektisch,
zweifaltig: a) nirgends, weil das System so aufgebaut ist, daß
es sich nicht absichtlich selber abschafft, und b): überall.
Nirgends heißt, niemand wird sagen: Hier, bitteschön, ist die
Planstelle für den Umsturz. Von hier aus kannst du uns
vernichten. Auf der anderen Seite gibt es viele Gelegenheiten,
etwas Richtiges zu sagen. Zum Beispiel für den braven
Gewerkschaftsfunktionär, der dafür da ist, die
Sozialpartnerschaft aufrechtzuerhalten und es in einer günstigen
Situation einfach mal nicht macht. Unter Umständen erfordert es
mehr Mut, in einer Talkshow eine sogenannte dumme Frage zu
stellen, als ein 800 Seiten langes marxistisches Buch zu
schreiben. Wenn man zum richtigen Zeitpunkt einen Hartmut
Mehdorn oder wen auch immer fragt, ganz ernsthaft: An diesem
Ostblock war die ganze Überwacherei doch so schlimm – wie ist
das denn jetzt bei euch? Da verliert jemand seinen Job, weil er
zwei Euro Flaschenpfand unterschlagen hat, und das findet ihr
heraus, weil das System so lückenlos ist, daß ihr noch diese
zwei Euro findet – warum habt ihr uns immer erzählt, daß die
Überwachung in der DDR so schlimm war?
Wenn man mit so einer Frage reingrätschen kann und viele Leute
erreicht, lohnt sich das. Immer mit dem kompletten Programm im
Hinterkopf. Das Powerplay fängt mit dem ersten Doppelfehler des
Gegners an. Je mehr Analysen man kennt, je mehr historische
Beispiele man weiß, wie sie das und das gekauft und absorbiert
haben, desto mehr ist man im Vorteil, wenn die anderen
straucheln. Ich sehe die Bruchstellen überall dort, wo Marxisten
sitzen.
Den schönsten Selbstmord von links begehen Leute, die sagen: Das
sieht marxistisch aus, aber das kann es ja nicht sein, sonst
wäre es nicht in der FAZ. Wenn man soweit ist, sollte man
aufhören, weil man damit im Grunde die Position vertritt: Wir
können nicht gewinnen, wollen nicht gewinnen. Es kann auch
keinen Zufall geben, der uns in die Hände spielt, sondern unsere
Analyse vom Reich des Bösen, in dem wir leben, ist so
vollständig, so detailliert und so richtig, daß wir mit nichts
anderem rechnen als damit, lebenslang in den Hintern getreten zu
werden. Fakt ist, die Gegner schlafen auch mal.
Wurden Texte von Ihnen in der FAZ nicht gedruckt?
Ein einziger von ungefähr 600 Artikeln ist aus inhaltlichen
Gründen nicht erschienen. Das liegt daran, daß diese Zeitung
konservativ ist. Das Angenehme an Leuten mit konservativen
Hintergründen ist, daß sie sich an Regeln halten, die sie
aufgestellt haben – im Unterschied zu Sozialdemokraten und
Grünen. Ein Sozialdemokrat stellt Regeln auf, weil sie nützlich
sind für die Funktion, die er im Moment hat. Nächste Woche sind
sie wieder weg. Die noch schlimmere Variante, die man in den
letzten 30 Jahren kennengelernt hat, ist: ökologisch,
basisdemokratisch und gewaltfrei. Diese Kombination kommt an die
Regierung und die Deutschen führen den ersten Krieg nach 1945,
dann wird Hartz IV eingeführt. Das nennen die sozial.
Basisdemokratisch? Ich lach’ mich tot. Was hatten wir noch?
Ökologisch. Naja, da wird in Dosenpfand investiert.
Der Konservative dagegen ist verbindlich, pünktlich und was es
sonst noch alles für einen Scheiß gibt. Der hat diese komischen
Regeln, und wenn du ihn dabei erwischst, daß er sie bricht, gibt
es einen Skandal. Die Kirche kriegt Skandale für Dinge, über die
eine SPD nur lachen würde. Wenn man nachweisen könnte, daß der
SPD-Vorsitzende säuft, hurt und überhaupt keine Prinzipien hat,
würde es heißen: Ja, aber er ist charismatisch, und die Leute
verbinden den Aufbruch mit ihm. Ein Papst kann sich so etwas
nicht erlauben.
Die von der FAZ sagen: Wir sind kosmopolitisch und liberal – man
kann hier eigentlich alles schreiben, vorausgesetzt, man erfüllt
die und die Standards. Fakt ist: Viele linke Autoren, mit denen
ich zu tun hatte, erfüllen diese Standards nicht. Sie müssen
unter Existenzbedingungen vor sich hinkrebsen, in denen man
bestimmte Professionalitäten nicht entwickeln kann. Wann denn?
Wie denn?
Als ich zur FAZ kam, war es von Vorteil, daß ich einigermaßen
manisch bin. Also, wenn es hieß: Bis 15 Uhr müssen die und die
Formalitäten erledigt sein, waren sie es. Ich kann schnell sein
und gründlich im Sinne von relativ fehlerfrei. Solche formalen
Requirements kann ich ganz gut erfüllen.
Ihre Texte sind in den Jahren bei der FAZ
verständlicher geworden, die Sätze kürzer, die Argumente klarer.
In formalen Geschichten verbirgt sich auch inhaltliche Zensur.
Wenn gesagt wird: Schreibe klar, kann das heißen: Äußere keinen
neuen Gedanken. Klar ist immer, was alle schon kennen. Die
Herausforderung ist dann: Wie klar kann ich den neuen Gedanken
machen?
Es gibt den klassischen Vorwurf, daß die Linken unverständlich
sind. Das kommt aus der Natur ihrer Position. Was sich total
verständlich sagen läßt, ist: Alles in Ordnung, weitergehen, es
gibt nichts zu sehen. Aber es klingt kompliziert, wenn man sagen
muß: Das Vokabular ist noch nicht entwickelt, aber hier … –
Kritisiere mal ein System mit der Sprache, die dieses System
erfunden hat! Eine andere ist nicht da. Du wirst komisch
klingen, stammeln und das Bedürfnis haben, durchs Zitieren
akademischer Autoritäten überzukompensieren. Linke Sprache hat
diese Laster, weil sie nach etwas tastet, das kein gebrüllter
Befehl ist.
So ist das zumindest bei mir. Ich möchte nicht mein ganzes Leben
damit verbringen, für Dinge zu agitieren, die ich von meiner
Herkunft her selbstverständlich finde. Ständig nur: Kommunismus
viel gutt mit zwei t – davon würde ich gaga werden.
Sie haben in der Öffentlichkeit sehr an Bedeutung
gewonnen. Bei der FAZ waren Sie noch ein Geheimtip aus der
Subkultur. Heute gelten Sie als engagierter Intellektueller,
dessen Stimme Gewicht hat. Wie reflektieren Sie diese Rolle?
Diese Planstelle hat sich sehr verändert. Das schmutzige kleine
Geheimnis aller kritischen Intellektuellen, die ich aus den
Achtzigern kenne, ist: Sie machten alle möglichen
Unterschriftenlisten, waren aber auf jeden Fall gegen den
Ostblock. Dieses Kontingent von nachdenklichen Menschen war
damals wichtig. Sie mußten irgendwie links sein, also das Gute
im Menschen wollen, etwas gegen Franz Josef Strauß und bestimmte
Unternehmer sagen, aber auf jeden Fall nicht für die bösen
Russen sein. Dafür gab es eine Menge Geld, Aufmerksamkeit und
Mikrofone, die man nicht den ganzen Tag vollbrüllen konnte mit:
Freßt! Kauft! Arbeitet! Die Streitigkeiten, die heute noch übrig
sind, sind weniger große Ideenstreitigkeiten. Es ist nicht mehr
so, daß der militärische Gegner des Westens gleichzeitig sein
Ideengegner ist. Die Auseinandersetzung mit dem Islam ist ein
erkennbar dürftiger Ersatz für all die Debatten um einen Dritten
Weg. Niemand sagt heute, es müsse zwischen westlichem Hedonismus
und mittelalterlichem Islam einen Dritten Weg geben. Aber von
nichts anderem wurde damals geredet als von einem Dritten Weg
zwischen dem bösen Ostblock und dem liberalen, aber kalten und
unmenschlichen Westen. Diese kritischen Intellektuellen, das war
die Abteilung Dritter Weg.
Hedonismus oder Islam – so wird ja gerne auch der
Nahostkonflikt diskutiert. Haben Sie zu dem eine Position?
Das mußte ja kommen. Palästina, hurra! ist natürlich das große
Erbe des Ostblocks. Nirgendwo sitze ich gelangweilter als
zwischen allen Stühlen, aber ich sage: Es muß einen Staat geben,
der dem Argument entgegensteht, die Juden seien ein staatenloses
Volk von Nationenzersetzern. Ich bin also etwas radikaler als
Leute, die sagen: Jetzt gibt es das, laßt sie doch leben. In den
sogenannten nuller Jahren war ich mehrfach in Israel, habe dort
relativ wenige Palästinenser kennengelernt, aber linke
Zionisten, linke Postzionisten, whatever. Gelernt habe ich:
Gerade, wenn man meint, daß der Staat wichtige Errungenschaften
in die Region gebracht hat, sollte man die aufeinanderfolgenden
israelischen Regierungen nicht bedingungslos unterstützen. Diese
extreme Position ist ein Erbe der Blockkonkurrenz. Da war egal,
was ein Deutscher sagte, Ost oder West. Das war nur ein Annex.
Heute geht es schnell darum, ob UN-Truppen geschickt werden, mit
Bundeswehrkontingent. Positionen wie: Israel bedingungslos
unterstützen versus was immer es auf der anderen Seite für einen
Wahnsinn gibt, sind da extrem unangemessen.
Das Hinfahren hat die Sache kompliziert gemacht.
Da erzählt eine Frau, die man sehr mag, und die bei ihrem
Militärdienst in der israelischen Armee ein Peace-Zeichen um den
Hals hatte, was sie da so erlebt hat. Und man sagt sich: Okay,
die ganzen Debatten, die in Deutschland so stattfinden, bilden
nicht ab, was die da gerade erzählt. Es klingt quietistisch,
aber die Schnelligkeit, mit der Antideutsche und andere Deutsche
zu einer Position kommen, die sie dann relativ faktendicht
halten können, ist mir verdächtig.
Geht es am Ende nicht darum, daß Juden überall auf der
Welt so wenig was Besonderes sind wie heute in New York?
Die pragmatische Frage ist damit nicht geklärt. Ich spreche mal
in einem Gleichnis: Eine schnelle Kritik an der DDR ist die
Kritik an der Stasi. Die teile ich. Warum? Die einzige
Rechtfertigung für die Stasi ist: Die brauchen wir, sonst bricht
das Ding zusammen. Es ist trotzdem zusammengebrochen, also
entfällt leider die Rechtfertigung. Wenn mir jemand dartun kann:
Die Leute müssen beschnüffelt werden, sonst bricht der
Sozialismus zusammen, leuchtet mir das in gewissen Grenzen ein.
Warum sollen immer nur die anderen eine Werkspolizei haben? Ich
habe kein Problem mit Repression, die ihren Zweck erfüllt. Wenn
sie den nicht erfüllt, müssen wir anders nachdenken. Für
Maßnahmen der DDR gilt ähnlich wie für Maßnahmen einer
israelischen Regierung: Wenn sie das Land schützen, bin ich
dafür; wenn nicht, dagegen. Daraus folgt auch: nicht um jeden
Preis. Wenn jemand sagt: Einer geht jetzt im Auftrag von
Ulbricht nach Washington und zündet dort eine Atombombe, damit
die DDR erstmal eine Atempause hat, bin ich nicht dafür. Es geht
eben auch um angemessene Mittel. Ich meine: Stasi-Kritik bitte
politisch und nicht moralisch und genauso Israel-Kritik bitte
politisch und nicht moralisch. Politisch heißt immer: konkrete
Situation, Alternativen. Und nicht: Weltanschauung, Foto und
dann Scharping, also Bombardierungen.
Noch einmal zurück zu Ihrem erweiterten Wirkungskreis.
Sie sind seit kurzem nicht mehr nur in popkulturellen und
politischen Kreisen bekannt, sondern auch beim gewöhnlichen
Gymnasiallehrer mit Zeit-Abo. Welche Konsequenzen hat das für
Sie?
Ich frage ich mich natürlich schon ein bißchen, ob es mein Job
oder Fluch ist, als ein extrem billiger, extrem trashiger,
extrem unzulänglicher Gesamt-West-Hacks ab und zu mal auf
Umfragen antworten zu dürfen wie: War die DDR vielleicht doch
ganz gut? Solche Umfragen erreichen mich schon. Das Schöne ist:
»Du bist ja hier der Trash-Hacks!«, das kommt immer nur vom
Trash-Heiner-Müller. Ich bekomme diesen Vorwurf nur aus einer
sich selbst als links verstehenden Ecke. Die heute Rechten oder
die in der Nähe der Zeitung Die Zeit sagen eher so Sachen wie:
Ich hab mal kurz auch Marx gelesen … und dann hab ich die Bände
alle verkauft, und das war, glaub ich, ein Fehler, die verkauft
zu haben und so weiter.
Ich besetze momentan die Stelle von dem Menschen, den man zu den
und den Themen anruft. Wenn meine liebe FAZ eine Serie zum
Krisenkram macht, werde ich angerufen, wenn das Wort
Verstaatlichung vorkommt. So wie ich angerufen werde, weil ein
englischer Science-Fiction-Autor gestorben ist. Diese ganze
Pressescheiße funktioniert über Zuständigkeiten, die in
irgendwelchen Köpfen imaginiert werden. Da bleibt hängen: Der
redet in dem Alexander-Kluge-Film »Nachrichten aus der
ideologischen Antike« eine Stunde lang über Marx. Wenn dann eine
Glosse zu einem neu aufgetauchten Marx-Foto gebraucht wird,
rufen die eher mich an als einen anderen.
Die interessante Frage wäre: Wird man zuständig für das skurrile
Wissen des Sozialismus oder darüber hinaus zu so etwas wie
Sachfragen vernommen? Der kritische Intellektuelle hat keinen
Wert mehr, der über den Exotenwert des scientologischen
Schauspielers oder vegetarischen Handballstars hinausgeht. Aber
die Rolle des Experten der Rote-Mützen-Sekte im ökumenischen
Konzert der komischen Sekten ist okay. Denn selbst da könnte
einmal jemand sagen: Dieser Zeuge Jehovas da ist eigentlich ganz
vernünftig – das hätte ich gar nicht gedacht von den Zeugen
Jehovas.
Haben Sie den Eindruck, daß Ihre politische Resonanz
mit dem Bekanntheitsgrad gestiegen ist?
Auf ein Spiegel-Interview hin haben sich Leute bei mir gemeldet,
die reale politische Arbeit machen. Das war eine Sternstunde für
mich. Wir standen erst einmal relativ hilflos voreinander, weil
ich nur sagen konnte: Wenn euch was einfällt, gerne. Sie sagten
Sachen wie: Wir haben die Intellektuellen und die Kulturleute
nicht auf unserer Seite. Da habe ich geantwortet: Fragt halt.
Es war unglaublich schön, mit diesen Leuten aus politischen
Organisationen, die tatsächlich existieren, eine Stunde
aneinander vorbeireden zu können und plötzlich zu merken: Die
interessiert das. Ich könnte es absolut verstehen, wenn es nicht
so wäre. Wenn du 20 Jahre lang in der Gewerkschaft bist, bei
Lafontaine, irgendwelchen Trotzkisten, der DKP oder in
irgendeinem Wahlbündnis gegen eine lokale Schweinerei, dann hast
du gewisse Erfahrungen mit den Intellektuellen: Wenn die
Fernsehkamera da ist, steht der Intellektuelle dabei, rufst du
ihn zwei Wochen später an und die Kamera ist weg, wird es
schwierig.
Umgekehrt machen wir Intellektuellen auch so unsere Erfahrungen.
Du kommst mit guten Ideen, die zum Teil naiv sein mögen, zu
einer Organisation und hörst: Moment, auf unserer Rednerliste
stehst du auf Platz 17, aber vorher müssen wir klären, ob hier
geraucht werden darf – dann rennst du schreiend davon, weil du
denkst: Mein Gott, sind das phantasielose Figuren.
Momentan ist alles sehr zersprengt. Gewerkschaftliche Arbeit,
politische Publizistik – das müssen wir alles neu lernen, unter
nicht mehr sozialpartnerschaftlichen Bedingungen, sondern wieder
antagonistischen. Lange gab es für alles Kanäle, Dialog mit der
Jugend und so. Jetzt ist nicht mehr Dialog mit der Jugend,
sondern Banlieu. Das muß man alles erst wieder lernen. Ich
glaube, der Weg ist relativ weit.
Bücher von Dietmar Dath (Auswahl):
– Die Abschaffung der Arten. Roman. Suhrkamp, Frankfurt/Main
2008
– Maschinenwinter. Wissen, Technik, Sozialismus. Eine
Streitschrift. Suhrkamp 2008 (edition unseld)
– Das versteckte Sternbild. Roman (unter dem Pseudonym David
Dalek). Shayol Verlag, Berlin 2007
– Waffenwetter. Roman. Suhrkamp 2007
– Heute keine Konferenz. Texte für die Zeitung. Suhrkamp 2007
(edition suhrkamp)
– Dirac. Roman. Suhrkamp 2006
– Die salzweißen Augen. Vierzehn Briefe über Drastik und
Deutlichkeit. Suhrkamp 2005
– Für immer in Honig. Roman. Implex Verlag, Berlin 2005.
Neuauflage: Verbrecher Verlag, Berlin 2008
– Höhenrausch. Die Mathematik des XX. Jahrhunderts in zwanzig
Gehirnen: Eichborn Verlag (Die andere Bibliothek),
Frankfurt/Main 2003
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Quelle: http://www.jungewelt.de/2009/08-24/025.php