Junge Welt 17.03.2010 / Schwerpunkt / Seite 3
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»Die Machtfrage war längst entschieden«
Till Meyer
Helmut Koch diktierte 1990, wo es langging. Ein Gespräch mit Till Meyer
Interview: Arnold Schölzel
Till Meyer war Mitglied der Bewegung »2.Juni« und arbeitet als Publizist in Berlin
Wie kam es zu dem Aufruf für die Demonstration am 17. März 1990?
Ende der 80er Jahre gab es in Westberlin einen Kreis von Leuten, die ein anderes
Verhältnis zur DDR hatten als die sogenannte neue Linke. Sie betrachteten die
DDR als einen – beileibe nicht vollkommenen – antifaschistischen,
sozialistischen Staat, mit dem sich die Westlinke hätte auseinandersetzen
müssen. Spätestens seit dem 9. November 1989 schwankten wir zwischen Wut auf
sogenannte Linke, die sich von dem Einheitsgedröhn mitziehen ließen, und
Paralyse. Seit Vorlage des Zehn-Punkte-Programms von Kohl am 28. November war
klar, wohin die Kugel rollt. Lähmend wirkte, wenn Leute, von denen man annahm,
daß sie alle Tassen im Schrank haben, auf einmal auf dem Einheitstrip sind. Aber
wir haben auch etwas getan, eine Handvoll Westlinker, einige aus der
Friedenskoordination und aus der SEW, der SED in Westberlin. Deren Führungsetage
war übrigens völlig abgetaucht. Insgesamt waren wir ein knappes Dutzend, die
dagegenhalten wollten. Das schien am Anfang ein bißchen lächerlich, aber
wenigstens wollten wir warnen: Paßt auf, was da über euch kommt, ist der
Kapitalismus, und der wird euch alles nehmen, was ihr bislang hattet.
Es ließen sich keine Partner finden?
Die gesamte westdeutsche Linke war apathisch und anpasserisch im Sinne von
»Wiedervereinigung«. Ich hatte damals Kontakte in die autonome Szene. Die sagten
mir: Was regt ihr euch auf? Jetzt ist endlich Platz für den richtigen
Sozialismus. Die Dimension der Ereignisse war ihnen nicht bewußt. So haben wir
uns einfach zusammengetan und überlegt, was wir machen? Da kam uns die Idee,
wenigstens gegen diese Wahl vorzugehen, denn die Machtfrage war längst
entschieden. So kam es zu der Demonstration mit etwa 20000 Teilnehmern.
Warum gab es keine Kontakte zur PDS oder zu Linken aus der
DDR-Opposition, zum Runden Tisch?
Wir mochten den Runden Tisch nicht, weil wir ihn für eine Quatschbude hielten.
Mit denen, die den Sozialismus immer noch reformieren wollten, mochten wir auch
nicht mehr sprechen. Die waren in unseren Augen politisch unbedeutend, denn Kohl
gab den Takt vor. Ich möchte keinem persönlich und politisch zu nahe treten,
aber für uns schienen das Traumtänzer zu sein. Aus Gesprächen, die wir mit ihnen
hatten, ergab sich: Sie gingen davon aus, daß nicht der Kapitalismus zu ihnen,
sondern der Sozialismus zu uns käme.
In völliger Naivität meinten sie, sie hätten noch etwas zu sagen. Dabei waren
sie nichts als ein Feigenblatt.Die sogenannten Bürgerbewegten verkörperten für
uns die Konterrevolution, obwohl das Wort für diese Leute zu hoch gegriffen ist.
Es waren Drei-Groschenjungen und -damen, die einen Salto rückwärts machten.
Zur PDS hatten wir vielfache Verbindungen, waren auf sie aber sehr sauer, weil
sie die alten Antifaschisten, namentlich Erich Honecker und das Politbüro aus
der Partei ausgeschlossen und der Reaktion schutzlos ausgeliefert hatten. Nur
das Vermögen der SED behielten sie.
Wie ging es nach der Demonstration weiter?
Im Mai 1990 folgte der Kongreß »Nie wieder Deutschland« in Frankfurt am Main, wo
bis zu 40000 Teilnehmer demonstrierten. Klaus Croissant und ich trugen damals
ein Transparent mit der Aufschrift »Ein Arschloch braucht zwei Hälften«.
Wie ist die Bilanz 20 Jahre danach?
Wir haben recht behalten, aber sind damit natürlich nicht zufrieden. Ich hätte
es lieber anders, z. B. das Gleichgewicht der Kräfte in der Welt. Ich hätte
lieber gern die SED am Verhandlungstisch bei der Gewerkschaft, ich hätte gerne,
daß Leute korrekten Lohn erhalten. Das alles gab es – und Frieden.
Quelle: http://www.jungewelt.de/2010/03-17/036.php